Donnerstag, 3. Juni 2021

Wiegenfest

Da mir zum Schreiben die Inspiration fehlt, hole ich sie mir. Und zwar in Form kleiner Schreibchallenges, deren Ergebnisse ich hier teile. Die Challenges sind simpel. Ich bekomme eine Überschrift vorgegeben, dazu einige Wörter, die ich in meinen Text einbauen muss, wie bei einer Reizwortgeschichte. Für den Text habe ich sieben Tage Zeit...


Challenge Nr. 9


Weichmacher
Kosmos
frankophil
coronabedingt
Duschvorhang

Überschrift (Freie Wahl, aber dreisilbig): Wiegenfest


Ein guter Freund, Chris, hatte am Samstag Geburtstag. Erst vor knapp zwei Wochen hat er mir eine WhatsApp-Nachricht geschickt. Angehängt waren fünf Wörter, die ich doch einmal für meine Schreibchallenge nutzen könnte. Das würde ihn freuen. Nun, da er Geburtstag hatte, dachte ich, wäre ein guter Zeitpunkt, seinem Wunsch nachzukommen.

Mein Verhältnis zu meinem Geburtstag ist wie das Verhältnis zu meinem Penis: Ich feiere ihn nicht besonders, finde ihn aber generell gut. Versteht mich nicht falsch, ich schenke gern und liebe es, beschenkt zu werden. Aber das Älterwerden zu feiern finde ich unsinnig, außerdem stehe ich ungern im Mittelpunkt. Da kam es mir gerade recht, dass ich meinen Geburtstag wie so viele Menschen im letzten Jahr coronabedingt erst gar nicht feiern konnte, dieses Jahr wird es ähnlich sein. Zwei Monate habe ich noch Zeit, dann rücke ich der 40 ein weiteres unwiderrufliches Stück entgegen, so langsam wird es eklig. Ich weiß noch nicht, was ich an meinem Geburtstag machen werde. Womöglich verbringe ich mehr Zeit als sonst hinter dem Duschvorhang, denn ich bin begeisterter Warmduscher und beim Duschen muss man keine Nachrichten beantworten oder ans Telefon gehen. Danach kleistere ich mir Weichmacher für den Bart in den Bart und den Schopf und schmiere mir Anti-Aging-Creme ins Gesicht, damit ich mich wieder wie 26 fühle. Wahrscheinlich höre ich auch Musik, die ich seit Jahren nicht mehr gehört habe, fange an zu tanzen und breche mir das Sprunggelenk. Dann fühle ich mich alt und hilfebedürftig, bestelle mir fluchend ein Taxi und lasse mich in die Notaufnahme fahren, denn mein Geburtstag ist ein verdammter Samstag. In der Notaufnahme schmunzeln sie hinter meinem Rücken und der freche Arzt grinst mir ins Gesicht – auf einmal bin ich jung, denn ich habe mit 36 eine Verletzung, für die ich zehn Jahre älter sein sollte. Ich bin beschämt wie ein 14-Jähriger, der zum ersten Mal beim Onanieren erwischt wurde, lasse mir eine Schiene verpassen und verlasse die Notaufnahme so schnell wie möglich. Zu Hause trinke ich eine Flasche Rotwein und spiele „Die Siedler von Catan“ (Kosmos, Spiel des Jahres 1995) gegen mein Über-Ich und mein Es. Mein Über-Ich gewinnt mit vier Städten und der längsten Handelsstraße, ich werde Zweiter und Es ärgert sich über den letzten Platz, weil es einfach nicht ans Erz kam und zu viele Zehnen gewürfelt wurden. Nach der zweiten Flasche Rotwein spüre ich mein Sprunggelenk nicht mehr und gehe schlafen, die dritte Flasche kippe ich über mein Bett. So oder so ähnlich könnte es ablaufen, ist nur so eine Vermutung.
Meinen 40. Geburtstag werde ich in vier Jahren auch nicht groß feiern. Ich werde irgendwo untertauchen, am besten im Ausland, Strand, Ferienhaus, vielleicht Frankreich. Ich bin überhaupt nicht frankophil, ganz im Gegenteil und mein Französisch ist gebrochener als es mein Fuß jemals sein wird. Aber ich liebe den Käse, die Baguettes und den Wein, am liebsten alles zusammen und in großen Mengen. Mit 40 darf ich auch endlich einen Bauch und eine Schnapsnase haben, da ist mir dann alles egal. Um mich herum werden zur gleichen Zeit nach und nach alle 40, deshalb habe ich schon lange die Schnauze voll von den vielen Feiern und genieße die Zeit irgendwo am Meer ohne den ganzen Trubel. Vielleicht wühle ich mich durch alte Texte und lese, irgendwann stoße ich auf diesen Blogbeitrag und nicke zufrieden. Dann fühle ich mich wieder ein bisschen jung und doch schon ein bisschen alt und ich erkenne, dass meine Sorgen unbegründet waren. Ich lege die Zettel beiseite, öffne eine Flasche Champagner und sage: „Gut, dass ich 40 bin.“

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